Kaiserreich Drachenstein

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Von den Menschen

Wer durch das Kaiserreich reist und nicht auf Menschen trifft, der wählt entweder mit eigentümlicher Zielstrebigkeit nur jene Gegenden, wo sich die steinernen Heimatstätten der Zwerge oder die abgeschiedenen Haine der Elfen finden, oder vermeidet die bewohnten Landstriche mit einer Akribie, die schon an Seherei grenzen mag. Denn der Mensch ist, so viel darf wohl ohne Übertreibung behauptet werden, allenthalben anzutreffen: sei es in den salzverkrusteten Hafenstädten Pretanz’, auf den sanft geschwungenen Hügelzügen Malaziens, entlang der gewundenen Pfade Esturiens oder in den blühenden Handelsorten Pelatas. Und dies keineswegs als stiller Mitbewohner – vielmehr als eifriger Gestalter, Verhandler, Erbauer, Zergliederer und Neuerer.

Die Menschen, welche unter den Sieben Völkern mit Abstand die zahlreichsten sind, zeichnen sich durch eine bemerkenswerte Fähigkeit zur Anpassung an die mannigfaltigen Bedingungen ihrer Umgebung aus. Diese Fähigkeit entspringt nicht allein einem natürlichen Geschicke, sondern, so scheint es mir, vielmehr jenem eigentümlichen Umstand, den sie selbst nur ungern beim Namen nennen: ihrer kurzen Lebensspanne. Was dem Elben als flüchtig und unvollkommen erscheinen mag, gereicht dem Menschen zur Triebfeder – gleichsam ein stetiger Ansporn, in der Kürze der Zeit Bedeutendes zu leisten. Er handelt, wo andere abwägen; er baut, wo andere sinnieren; oft scheitert er – und steht umso schneller wieder auf.

In den Städten und Dörfern des Kaiserreichs ist der Mensch ein vertrautes Bild. Kaum eine Amtsstube, ein Markt, ein Lehrhaus oder eine Garnison, in der nicht Menschen einen maßgeblichen Anteil an der Ausgestaltung des öffentlichen Lebens hätten. Sie sind es auch, die das gemeinhin als selbstverständlich Geltende oft erst möglich gemacht haben: Straßen, Brücken, Bewässerungssysteme, ja selbst die Kartierung ganzer Provinzen gehen zu weiten Teilen auf ihr unermüdliches Wirken zurück. Ein altes Sprichwort besagt wahrhaft: »Was feststeht im Reich, steht auf menschlichem Grund.«

Was die Menschen an magischer Begabung aufweisen, ist beachtlich – und mehr noch ist es ihr Eifer, mit dem sie sich der arkanen Kunst widmen. Nicht wenige der großen Magier, deren Namen selbst im fernen Arldroy mit Respekt genannt werden, entstammen diesem rastlosen Geschlecht. Man mag darin eine Reaktion auf ihre Sterblichkeit sehen: Der Wunsch, durch Magie der Zeit zu entkommen, ist bei vielen nicht verborgen. In seltenen Fällen gelingt dies gar, doch sind es die Ausnahmen, die hier den Ruf des Möglichen nähren. Weitaus häufiger jedoch verleiht ihnen die Magie nicht Unsterblichkeit, wohl aber Glanz und Einfluss – und dies oft in überbordender Fülle.

Was ihr Äußeres betrifft, so ist unter den Menschen eine beachtliche Vielfalt anzutreffen, wie sie bei keinem anderen Volke zu beobachten ist. Im Allgemeinen erreichen männliche Exemplare eine durchschnittliche Körpergröße von etwa 1⅛ Schritt, weibliche sind geringfügig kleiner. Die Körperfülle variiert erheblich je nach Lebensumständen, doch liegt das durchschnittliche Gewicht ausgewachsener Männer bei etwa 2⅛ Stein. Die Lebenserwartung beträgt, sofern nicht Krankheit, Krieg oder Unfall vorzeitig das Leben beenden, durchschnittlich achtzig Jahre, wobei einzelne gar das neunzigste Lebensjahr erreichen können.

Gemein ist allen Menschen das Vorhandensein runder Ohren, ein Merkmal, das sie deutlich von Elben und Vampiren unterscheidet, bei denen das Ohr leicht zugespitzt ist. Ihre Sinne und Reflexe gelten als weniger geschärft als die ihrer langlebigeren Vettern, was jedoch durch Erfahrung, Erfindungsgabe und eine gewisse Beharrlichkeit nicht selten ausgeglichen wird.

Da die Menschen seit unvordenklicher Zeit in den verschiedensten Gegenden dieses weiten Landes siedeln und über Generationen hinweg in relativer Abgeschiedenheit lebten, haben sie sich den dortigen Gegebenheiten ihrer Umwelt auf mannigfaltige Weise angepasst. So findet man im hohen Norden helle Haut, rötliches oder strohblondes Haar und Augen von klarem Blau oder Grau, während in südlicheren Gegenden die Haut dunkler, das Haar kohlschwarz und das Auge tiefbraun zu sein pflegt. In manchen abgelegenen Landstrichen haben sich auch ungewöhnlich farbige Iriden, weißblondes Haar oder auffällige Sommersprossenmuster durchgesetzt, die dort als Schönheitszeichen gelten mögen, andernorts jedoch Verwunderung hervorrufen.

Bemerkenswert ist ferner, dass Menschen mit bestimmten Linien der Vampire fruchtbare Nachkommen zeugen können, was andernorts unter den Völkern als befremdlich oder gar gefährlich empfunden wird. In Drachenstein jedoch, wo praktische Erwägungen bisweilen mehr gelten als metaphysische Skrupel, sieht man solche Verbindungen mit einer Mischung aus Vorsicht und Neugier. Die daraus hervorgehenden Kinder tragen nicht selten sowohl die Vitalität ihrer menschlichen Ahnen als auch die physische Widerstandsfähigkeit vampirischer Herkunft in sich – ein Umstand, der sie gelegentlich zu besonderen Aufgaben im Dienste des Reiches prädestiniert.

Was ihre Herkunft betrifft, so glauben die meisten unter ihnen, dass ihre Geschichte mit der Ankunft des Martinus von Drachenstein begann, jenes hochverehrten ersten Kaisers, der vor nunmehr sechstausend Jahren an der Küste Pretanz’ landete und sich anschickte, ein Reich zu gründen. Dass auch vor ihm bereits Menschen in diesen Landstrichen lebten, wird in gelehrten Kreisen nicht bestritten, doch im Volksglauben scheint jener Ursprung kaum Platz zu finden. Es scheint bequemer, von einem Anfang mit Namen zu sprechen, als sich mit den Wirren der Vorzeit zu befassen.

Die politischen Strukturen der Menschen sind weitgehend in das Gefüge des Kaiserreichs eingebunden, das von ihnen selbst – zumindest der Überlieferung nach – begründet wurde. In entlegeneren Regionen finden sich auch Stammesverbände oder lose Dorfgemeinschaften, doch ist der Mensch im Allgemeinen ein Freund der Ordnung, solange diese ihm Gestaltungsspielraum lässt. Besonders stark vertreten sind sie in den Provinzen Esturien, Pelata, Pretanz sowie entlang des südlichen Inneren Rings Malaziens.

Ihr Verhältnis zu den übrigen Völkern ist von großer Vielfalt: Mit Halblingen verbindet sie ein gewisser Hang zum Praktischen, mit Elfen eine respektvolle, wenn auch oft distanzierte Koexistenz. Vampire und Elben erscheinen ihnen als geheimnisvolle, wohl beinahe überirdische Wesen, deren Nähe sie zwar suchen, doch selten gänzlich ohne Beklommenheit ertragen. Die Zwerge werden gemeinhin mit Faszination betrachtet – ihr handwerkliches Geschick, ihre Sturheit, ihre Gruben und Gänge üben auf viele Menschen eine eigentümliche Anziehung aus. Und Drachen, diese betrachtet man mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Furcht, und zieht es zumeist vor, ihnen nicht zu begegnen.

Am treffendsten beschrieb, so glaubt der Verfasser, ein alter Weiser aus Pelata die Eigenart dieses Volkes: »Der Mensch«, sprach er, »weiß, dass er vergeht – und handelt doch stets, als würde er ewig seiner Arbeit Früchte ernten.«

So fügen sie sich mit all ihrer Ungeduld, ihrem Mut, ihrer Eitelkeit und ihrem Erfindungsreichtum als unverzichtbarer Teil in das Vielbild der Völker Drachensteins. Und wäre das Reich ein Uhrwerk, so wären die Menschen wohl nicht das feinste Zahnrad – doch ganz gewiss das, das sich am unermüdlichsten dreht.