Bilder tauchen vor ihrem inneren Auge auf. Von einer von Ratten zugekoteten Abstellkammer in einer frühen Arbeitsstelle. Dort hat es fast genauso gestunken. Was ist das hier? Haben sie ein Rattenproblem? Sie konnte sich nicht einmal vorstellen in einem rattenverseuchten Schiff zu übernachten. Wer weiß ob diese Biester sie nicht des Nachts anknabbern würden. Es schüttelt sie heftig vor Ekel. Trotzdem geht sie weiter. Irgendetwas stimmt einfach nicht. Sie fühlt sich seit geraumer Zeit beobachtet und obwohl sie dem Seemann und dem Glöckchen immer näher kommt, hört sie nichts von ihm außer das Bimmeln in welches sich Tierlaute mischen. Zu Kyras Überraschung hört es sich aber nicht nach Ratten oder Mäuse an. Es sind Laute der Aufregung, der Beunruhigung,der Angst. Kyra bleibt stehen. Das Bimmeln des Glöckchens wird immer lauter, aufgeregter. Etwas stimmt nicht. Ich muss weg! Sofort!
Sie dreht sich um, hin zur Treppe um mit eiligen Schritten zu verschwinden, als sie unerwartet gegen einen festen Körper stößt.
"Willst du schon gehen?"
fragt eine rauhe, männliche Stimme. Und Kyra erkennt sie mit Schrecken als jene des Matrosen wieder. Unwillkürlich geht sie zurück.
"Was für ein böses, böses, Mädchen du doch bist. Stellt mir ein Bein, verpasst mir ein Klingelding und schleicht sich aufs Schiff."
Kyra geht immer weiter rückwärts. Seine Stimme lallt leicht, der Geruch von Alkohol steigt in ihre Nase, doch seine Schritte sind noch fest. Er ist eindeutig angetrunken, aber nicht zu betrunken. Eine böse Ahnung steigt in ihr hoch. Sie ist in eine Falle getappt. Er hat sie hier runter gelockt und hat nun... was vor? Sie schüttelt den Kopf, unfähig etwas zu sagen.
"Für das hier..."
er macht eine Pause, zeigt vermutlich auf irgendetwas. Kyra stößt links und rechts an Kisten und Fässern an, sucht sich einen Weg durchs Lager, immer darum bemüht Abstand zu gewinnen zum immer näher kommenden Kerl.
"...sollte ich dir eine Lektion erteilen. Hast du ja verdient.
Ooooder, bist du mir vielleicht deswegen gefolgt? Hehe..."
Das blinde Mädchen stolpert immer weiter rückwärts, ihren Stock wie ein Schwert vor sich haltend, bis sie an einer klapernden Wand hinter sich anstößt. Das Geschrei der Tiere ist jetzt direkt hinter ihr. Sie kann spüren wie sich etwas in ihren langen Haaren festbeißt und daran zieht. Auch das Glöckchen ist jetzt ganz nah. Käfige!
Lachend wird ihr ihr Stück Holz aus der Hand gerissen und neben sie gegen den Käfig geschleudert, wobei die Tiere erneut aufschreien.
"Hast du Angst vor den Nagern? Dabei sagen doch alle, dass Frettchen so süß sein sollen. So kuschlig und weich. Und erst die Mäntel aus ihnen."
Sie spürt seinen Atem auf der Haut. Er ist ganz nah. Sie versucht links oder rechts aus zu brechen, aber seine Hände sind schneller, packen sie, werfen sie wieder zurück.
"Nanana, nicht so schnell mein Täubchen. Du hast dich noch gar nicht bei mir entschuldigt."
Ein fremder Mund drückt sich auf den ihren, fremde Hände quetschen ihr Kinn herunter damit sich eine fremde Zunge in sie bohren kann. Sie schlägt nach ihn, in wilder Verzweiflung, doch er scheint es nicht einmal zu bemerken. Ihre Finger krallen sich in alles mögliche, während der Körper sich näher an sie presst. Irgendwas muss sie doch tun!
Ein plötzlicher Schmerz zuckt durch ihr Bewusstsein. Ihr Finger. Etwas hat in ihren Finger gebissen.
Ihre Hände gleiten weiter an den Käfigen entlang, lassen Bisse und Kratzer über sich ergehen, während sie ein sehnsüchtiges aufstöhnen von dem Kerl vernimmt, der eine Hand von ihr gelassen hat und sich rythmisch bewegt umd...sich etwas aus zu ziehen?
Sie findet etwas bewegliches. Beweglicher als der Rest. Eine Käfigtür! Sie tastet nach dem Schloss. Die Biester wehren sich als hätte sie etwas schlimmes vor.
"Das wird eine Nacht die du nicht so schnell vergisst."
Ihre blutig schmerzenden Finger ertasten einen Pflock welcher sich zwischen zwei Holzstücken verharkt. Sie reißt ihn heraus und sticht damit zu. Ein jaulender Schmerzensschrei ist zu hören, er lässt von ihr ab. Gleichzeitig hört sie zahlreiche Tiere weglaufen, auch das Glöckchen.
"MISTVIECHER! BLEIBT HIER! NEIN, AAAAHAAHAAAA! LASS LOS!"
Kyra hofft dass eines der Tiere genau dorthin gebissen hat wo sie es sich vorstellt und quetscht sich an ihm vorbei, zurück in Richtung Treppe, gefolgt von zahlreichen Flüchen und Geschrei. Ohne ihren Stock als Hilfsmittel rennt sie unentwegt wieder gegen Kisten und Fässer. Ein paar Mal tritt sie auch auf die Tierchen die ihren Weg ins freie suchen, wird gebissen. Endlich gelangt sie zur Treppe, hastet hinauf, stößt sich erneut den Kopf an hervorstehenden Balken und tiefer Decke. Vom Schlafraum sind laute Geräusche zu hören. Der Lärm hat die Schlafenden gewegt. Vielleicht auch das ein oder andere Frettchen. Ein Schlag des vermaledeiten Schiffes trifft sie schwer, lässt sie beinahe die Balance verlieren, das Quietschen, das schreien ebbt nicht ab, machen das ganze nur noch konfuser. Einzig die Richtung kennt Kyra, nach oben.
Endlich spürt sie die klare, kalte Seeluft, hat das Deck erreicht. Sie hört Schritte hinter sich. War die Planke rechts oder links? Kyra überlegt.
"BLEIB STEHEN DU SCHLAMP...AAAAR!"
Kyra entscheidet sich für links. Eilt so schnell sie kann ohne Gefahr zu laufen zu stolpern über die Planken. Sie trifft loses Seil auf ihrem Weg. Sie hört das Glöckchen vor sich. Die Frettchen! Natürlich sie kennen den Weg! Ihre Schritte werden schneller, sicherer, da stößt ihr Knie auf etwas. Sie wird nach vorn geschleudert, verliert das Gleichgewicht, und fällt...