Die Legende von der Braut des Sees
Es ist so viele Jahre her, als Pisar noch nicht dicht besiedelt war, da wohnte an dem See Platyain ein junges Mädchen von bezaubernder Gestalt, das den Namen Faya trug. Ihre genaue Herkunft hat man längst vergessen, doch ihre Schönheit wird besungen bis zum heutigen Tag. Schön war sie wie der beginnende Morgen in warmen Frühlingstagen, mit einem Lächeln, welches die Herzen aller Beschenkten einen Hüpfer des Wohlgefallens bereitet. Haar wie gesponnenes Gold, und ihre jugendliche Haut war makellos wie gefrorenes Wasser. Sie liebte einen Mann von niederem Stand mit dem Namen Taran, der sie ausführte und vergötterte vom ganzen Herzen. Ihre Liebe und ihre baldige Heirat waren beschlossene Sache, und alle Bewohner des Landes gratulierte dem gemeinsamen Paar und wünscht ihm alles Glück dieser Welt auf den weiteren Lebensweg, sollte die Hochzeit in einigen Wochen doch ein Fest aller werden zur Vermählung des jungen Paares.
Nun, diese zwei Menschen, die sich gefunden hatten, fuhren öfters mit einem kleinen Ruderboot auf den See Platyain hinaus, der zu jener Zeit noch glasklar wie ein Bergquell war, um dort gemeinsame Stunden zu vollbringen, fern von den neugierigen Blicken ihrer Familien und Freunde. Eines Tages, noch wenige Wochen vor der Hochzeit, trug es sich zu, dass aus unerfindlichen Gründen das Boot kenterte. Das traute Paar wurde in den See geworfen und heftige Wellen umschlugen sie. Faya tauchte schon bald aus den Fluten wieder auf und suchte vergeblich ihren Geliebten im Wasser. Sie schwamm umher, ruderte um das Boot und tauchte in die See, doch kein Lebenszeichen von ihm war zu finden. Erst als ihre Arme schwer wurden trat sie mit blutendem Herzen und schmerzenden Gliedern den Rückweg an und erreichte mit letzter Kraft eines der Fischerboote nahe am Ufer, welches sie barg. Ihr Liebster jedoch blieb verschwunden und sie weinte bitterliche Tränen um ihren Taran, den ganzen Tag lang und die Nacht. Am Morgen des Folgetages jedoch ward er gefunden, lag am Strand und rührte sich nicht. Seine Kleidung halb zerrissen, als hätte ein wildes Getier ihn angefallen; Kratz- und Schürfwunden bedeckten seinen Leib, doch war er am Leben, wenn auch nicht bei Sinnen. Sofort wurde er ins nächste Dorf gebracht und behandelt. Faya wachte jeden Tag und jede Nacht an seinem Bett und betete und hoffte um ihren Geliebten. Die Wunden schlossen sich, verheilten, aber ein schweres Fieber nistete sich im Körper des jungen Taran ein. Er schlief den ganzen Tag und die ganzen Nächte lang, unruhig auf immerfort schweißbedeckten Lacken, aufstöhnend und murmelnd Worte ohne Sinn. Und Faya litt mit ihm jede einzelne Sekunde lang.
Als ein Heilkundiger nach dem anderen aufzugeben bereit war, hörte sie, dass ein blauer Drache sich unlängst im Gebirge nahe am See niedergelassen hatte; ein Wesen, welches Wünsche zu erfüllen bereit sei für die normalen Sterblichen. Faya setzte ihre ganzen Hoffnungen in diesen Drachen und nahm die Reise auf sich, um ihn nach vielen Tagen des entbehrungsreichen Marsches hoch im Gebirge aufzusuchen. Sie kniete vor ihm nieder und bettelte um das Leben ihres Liebsten, erzählte mit tränenden Augen von ihrer Liebe, die ewig währen würde, wenn er nur geheilt werden würde. Der Drache hörte ihr geduldig zu und schien sich erweichen zu lassen. Er gab dem Mädchen ein kleines Fläschchen und entließ sie mit den Worten: »Dieser Trank wird deinem Taran neues Leben schenken, doch sollte er jemals wieder hinausfahren auf den See, so wird der Tod ihn ereilen und niemand kann ihn mehr retten.« Viele Male bedankte sie sich bei dem Drachen und eilig stieg sie vom Gebirge hinunter ins Tal und brachte die Medizin ihrem Geliebten. Und tatsächlich, nach nur wenigen Tagen zog sich das Fieber aus seinem Körper wieder zurück und Taran erwachte aus seinem wochenlangen Schlaf. Aber oh weh, der Schmerz war groß, als er die Augen aufschlug und weder Faya noch sich selbst erkannte. Sein ganzes Dasein war vergessen und für ihn waren alle um ihn herum nur Fremde. Anfangs glaubte Faya noch an Nachwirkungen der Krankheit und redete geduldig auf ihn ein, erzählte ihm von ihrer Liebe und seiner Kindheit, zeigte ihm Dinge und Bücher seiner Vergangenheit, alles vergebens. Erst da erkannte Faya die Doppeldeutigkeit der Worte des Drachen. Ein neues Leben war ihm geschenkt worden, das alte Leben jedoch unwiederbringlich verloren. Wieder wanderte sie in die Berge, viele Tage lang, um den Drachen erneut aufzusuchen und seine Hilfe zu erbitten, aber sie fand ihn nicht. Verzweifelt machte sie sich auf den Rückweg und verbrachte viele Tage damit, um Taran zu werben, wie es eigentlich nur Jünglinge um Mädchen tun würden. Zwar war Taran ihr zugeneigt wie ein Mann einer schönen Frau zugeneigt sein kann, doch Liebe empfand er nicht mehr für sie, und Faya musste dies einsehen. An dem Tag, an dem ihre Hochzeit hätte stattfinden sollen, zog sie ihr Brautkleid an, legte ihren Schleier über ihr Gesicht, und ging in einer monderfüllten Nacht ins Wasser, um niemals wiederzukehren. Ihr Leib wurde niemals gefunden; nur das Wasser trübte sich voll Trauer über das zerbrochene Herz von Faya.
Aber halt, verehrte Zuhörer, dies ist nicht das Ende meiner Geschichte. Hört weiter was geschah, viele Jahre später. Taran fand eine neue Liebe, die er ehelichte, und mit ihr zog er weit ins Land hinein und verdiente sein Geld als Bauer. Er schaffte es, einen gestandenen Hof aufzubauen, und erlebte sein persönliches Glück mit vielen Kindern, und er vergaß die Fremde, die sich Faya nannte, und er vergaß, was sie ihm einst erzählte. Er wurde älter und feister, und wie das Leben so spielt, starben eines Tages seine Eltern, und Taran kam, um sie zu beerdigen und ihren Nachlass zu regeln. An dem Tag seiner Fahrt nach Hause sah er ein Boot an der Seeküste liegen und einer inneren Eingebung folgend beschloss er, mit seiner Frau hinauszufahren, denn er hatte die Warnung von Faya vergessen, und seine Getraute wusste nichts von Tarans altem Leben. Er ruderte bis zur Mitte des Sees hinaus, um dort zu verweilen, und, so schworen es die Leute, ohne irgendjemandes Zutun kippte das Boot inmitten des stillen Sees mit seinen Passagieren. Böse Ahnungen erfüllten die ansässigen Fischer, und sie alle fuhren hinaus zum See und bargen Tarans Weib aus den Fluten. Von Taran selbst jedoch war nichts zu sehen. Er blieb verschwunden, den ganzen Tag und die ganze Nacht über bis zum nächsten Morgen. Da ward er angespült, tot, an den steinigen Strand des Sees. Die Augen geweidet, der Hals zerkratzt, war der Mund zu einem ungewollten Kuss verzogen.
Faya, so sagte man sich, habe ihren Liebsten zu sich zurückgeholt. Und noch heute, an den Tagen wo Legenden und Sagen meist vergessen zu sein scheinen, kann man auf dem Platyain in nebeligen Nächten die Umrisse von Faya sehen, wie sie inmitten des Sees in ihrem zerschlissenen Brautkleid steht und an die Küste blickt. Und, so erzählen sich die Leute, jeden Mann in die Tiefe zieht, der seine Liebste verschmäht.